Ein Loch im Loch
Reading im Kunsthalle, Düsseldorf
May 2023
Kurz nachdem ich in die Klasse gekommen war, erfuhr ich, dass wir eine Exkursion nach Frankreich machen würden. Ich war die letzte Person in meiner Klasse, die sich für die Reise angemeldet hatte und mitfahren konnte. Allerdings hatten wir keine Unterkunft reserviert, was bedeutete, dass jeder von uns selbst einen Schlafplatz finden musste. Ich hatte weder einen Schlafsack noch ein Zelt und schrieb am Tag vor unserer Abreise eine E-Mail an die ganze Klasse, ob mir jemand etwas leihen könnte. Glücklicherweise konnte mir ein Freund ein Zelt leihen und auf dem Weg fand ich in einem Aldi-Supermarkt zufällig einen Schlafsack. Es war Frühlingsanfang und zum Glück gab es ein paar Campingartikel in den Regalen. Das Zelt, das ich mir geliehen hatte, war für eine Person gedacht gewesen, aber Nuo, die kein Zelt hatte, und ich schliefen eng aneinandergekuschelt. Ich klapperte mit den Zähnen, weil mir kalt war, und sie wälzte sich die ganze Nacht hin und her und gab mir ab und zu einen Klaps, damit ich ruhig war.
Als ich aufwachte, konnte ich das steife Gefühl in meinen Gliedern nicht loswerden. Die Temperaturen waren in der Nacht gesunken, und durch den frühmorgendlichen Tau auf der Wiese war der Zeltboden feucht geworden. Ich zog mich schnell an und ging aus dem Zelt zu dem großen Holztisch, an dem wir am Vorabend Bier getrunken hatten. Einige hatten bereits mit dem Frühstück begonnen.
Jemand holte ein kleines Schweizer Taschenmesser hervor, das er immer bei sich zu haben schien, und schnitt das Brot auf. Sorgfältig schnitt er sich etwas von der französischen Butter und dem Käse aus dem Lebensmittelgeschäft von unterwegs ab, schnitt die Tomaten auf, platzierte alles auf seinem Brot und begann zu essen. Seine Handhabung des Messers war geschickt und elegant. Er war zwar an einem anderen Ort, hielt aber an seinen Essgewohnheiten fest. Die Person schräg gegenüber von ihm, die etwas weiter abseits saß, öffnete eine Dose Thunfisch. Sie stach mit der Gabel hinein und aß ihn, ohne vorher das Öl abzugießen. Eine andere Person, die am Ende des Tisches saß, biss in einen grünen Apfel. Sie aß immer nur Äpfel. Nicht etwa zusammen mit glutenfreiem Brot, Hafermilch, Getreideschnitzel oder trockenem Salattofu, sondern einfach nur Äpfel. Sie sagte, dass sie es nicht mögen würde, wie Gabel und Messer mit dem Essen umgingen. Jemand anderes aß in Plastik verpacktes chinesisches Kimchi, ohne Reis. Wiederum jemand anderes holte einen großen Beutel Haferflocken heraus, die er seit Beginn der Exkursion dabei gehabt hatte. Es sah so aus, als sei die Tüte endlich zur Hälfte leer. Er stellte einen Topf mit Wasser und einer kleinen Menge Milch auf einen Campingkocher und kochte die Haferflocken darin. Es gab ein paar Leute, die nichts zu essen hatten, nur Kaffee zum Frühstück. Ich kochte etwas Wasser und schüttete es über die Tasse mit den Instantnudeln. Sie waren warm und scharf. Die Kälte, die mich in der Nacht zuvor begleitet hatte, schien endlich zu verschwinden.
Wir wurden in zwei Gruppen aufgeteilt und trafen uns mit dem Auto vor der Höhle. Am Eingang der Höhle wartete bereits eine Führerin darauf, uns zu begrüßen. Wir folgten ihr und betraten hintereinander den engen Eingang. Der Durchgang war so schmal, dass man die Wände fast berühren konnte. Wir verließen uns auf das kleine Lampenlicht, das die Führerin in der Hand hielt, und auf ihre Stimme, die den gesamten Raum füllte. Es fühlte sich an, als gewöhnten sich unsere Augen schnell an die Dunkelheit. Jedes Mal, wenn die Führerin um eine Ecke des gewundenen Ganges verschwand, wurde es wieder dunkel um uns herum. Manchmal blieb sie stehen, um die Wand mit ihrer Lampe zu beleuchten. Jedes Mal, wenn sie das Licht auf die Wand in ihrer Nähe richtete, erschienen hier und da Ziegen, Pferde, Mammut und Hirsche, die unterschiedlich stark in die Wand gekratzt worden waren.
An irgendeinem Tag vor 15.000 Jahren hatte hier jemand gestanden und die Linien gesehen, die im Laufe der Zeit in dem Körper des Felses entstanden waren. Sorgfältig hatte er mit dem Auge eine der vielen Spuren ausgewählt und entlang dieser Linie ein Pferd gezeichnet. Als dieses irgendwann verblasst war, war ein anderer an die Stelle gekommen, hatte dort ein verschwommenes Tier gefunden, die Linie auf dessen Rücken verlängert und eine Kuh gezeichnet. Dann, Jahrzehnte später, war jemand an diese Stelle gekommen und hatte, das Pferd und die Kuh von damals vergessend, ein Mammut auf die Stelle gemalt.
Geschichtet, verworren und zerrissen, sahen die Tiere manchmal wie imaginäre sechsbeinige Kreaturen aus, manchmal wie etwas, das ständig in Bewegung war.
Die Taille wird zum Rücken, der Rücken wird zum Bauch,
der Bauch wird zum Kopf.
Der Kopf gebärt die Hüfte.
Die Hüfte gebärt die Taille.
Der Bauch verschluckt den Schwanz.
Bein schlägt auf Bein, Hüfte trifft auf Gesicht.
Zwei Köpfe prallen aufeinander.
Sie kreuzen sich, als würden sie kämpfen.
Sie schlagen sich und weichen einander aus.
Der Hirsch wird zur Ziege, die Ziege wird zur Katze.
Ein Gesicht wird zu einem Schwanz.
Prähistorische Menschen führten ein Leben unterwegs, wanderten auf der Suche nach Nahrung von Ort zu Ort. Sie folgten dem Wechsel der Jahreszeiten, den Tieren und den Wachstumszyklen der Pflanzen. Sie waren flexibel und begnügten sich mit dem, was verfügbar war. Sie fanden und sammelten Termiten, pflückten Früchte, gruben Pflanzenwurzeln aus, jagten Kaninchen, Bisons und Mammuts. Sie mussten nicht nur die Tiere, Pflanzen und Gegenstände um sich herum verstehen, sondern auch die innere Welt ihres eigenen Körpers und ihrer Sinne. Sie lauschten auf die kleinsten Geräusche im Gras, um festzustellen, ob eine Schlange in der Nähe lauerte. Sie schauten genau zwischen die Blätter, um Bienenstöcke und Vogelnester zu entdecken. Beim Essen, Sitzen, Gehen und Laufen waren sie flott und immer wachsam.
Einmal sagte mein Kollege, der nach der Arbeit mit mir nach Hause ging und die belebte Straße beobachte, ruhig:
"Das Unglück aller Menschen begann, als die Menschheit den Dünger erfand."
Vor der Erfindung des chemischen Düngers mussten die Menschen die meiste Zeit damit verbringen, Nahrungsmittel zu produzieren. Nachdem chemische Düngemittel verfügbar geworden waren, stieg die Nahrungsmittelproduktion sprunghaft an und die Bevölkerung explodierte. Mit weniger Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiteten, konnten mehr Lebensmittel produziert werden als zuvor. Überschüssige Arbeitskräfte auf dem Land begannen in die Städte abzuwandern. Die Menschheit wurde vor dem Verhungern bewahrt, aber das städtische Leben verlängerte die Arbeitszeiten. Dank chemischer Düngemittel wuchs die Bevölkerung von einer Milliarde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf heute acht Milliarden.
Bevor der Mensch den Dünger erfand, bevor er das Vieh domestizierte, bevor er sesshaft wurde und bevor er die Auffassung entwickelte, den Tieren überlegen zu sein, hatte er in prähistorischen Zeiten jeden Tag gebetet. Die Menschen hatten über Sprache, Gesang, Tanz und Rituale mit allem kommuniziert. Es gab keine Barrieren zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Sie beteten für eine erfolgreiche Jagd, um bei rauem Wetter nicht zu verhungern. Sie trugen Tierhäute am Körper. Wenn alles nach Plan verlief, konnte die Gruppe an einem einzigen Nachmittag in Zusammenarbeit mehrere Tonnen Fleisch, Fett und Tierhäute erbeuten. Da sich die Strategie, sich in Tierhäuten zu tarnen, bei der Jagd als erfolgreich erwiesen hatte, glaubten sie, dass die Beherrschung des Bildes des Tieres ihnen die magische Kraft verleihen würde, das lebende Tier zu kontrollieren. Die Häute verwandelten sich nach und nach in Bilder, die eine gesamte Felswand bedeckten. Sie gingen tief in die Erde, weit weg von den Wohnräumen am Eingang der Höhle, um Tiergestalten zu erschaffen. Vielleicht hielten sie Zeremonien ab, bei denen sie in dem Glauben, viele Tiere zu fangen, Speere auf die gemalten Bilder warfen oder sie übten sich in der Jagd, indem sie den gesamten Ablauf der Jagd nachstellten. So wurden die Spuren ihres Überlebenswillens für uns beleuchtet und zwanzigtausend Jahre später an uns weitergegeben.
Wir konnten nicht mehr abschätzen, wie tief wir gegangen waren. Wir gingen tiefer und tiefer und verließen uns nur auf die Schritte unserer Führerin. Es war ein sehr enger Raum und ich musste mich tief nach vorne beugen, damit mein Kopf nicht die Decke berührte. Die Wände waren von mehreren natürlichen Löchern durchzogen. Unsere Führerin leuchtete mit der Lampe an die Decke und fragte:
"Was seht ihr?“
Rundherum waren unzählige weitere Linien eingekratzt worden, aber ihre Form war immer noch deutlich zu erkennen. Ein vierbeiniges Biest. Es sah aus wie ein gewöhnlicher Hund oder Wolf. Plötzlich wandte sie sich der anderen Seite der Wand zu und als sie langsam eines der vielen Löcher abdeckte, durch die Licht fiel, setzte sich der Hund, der zuvor gestanden hatte, auf sein Hinterteil. Als sie ihre Hand wegnahm, stand der Hund wieder auf. Man weiß nicht, ob es von einer Person oder von zwei Personen mit unterschiedlichen Zeitzonen gezeichnet worden war, aber es war das, was man die erste Animation der Menschheit nennen könnte. Der Nebel, der für mich über der Zeit der Höhlenmalerei gelegen hatte, schien sich ein wenig zu lichten.
Die Menschen damals tasteten sich durch die Dunkelheit und verließen sich dabei auf einen Lichtschimmer, der durch ein Loch in der Wand in einer tiefen, dunklen Höhle fiel. Dann wurde es Nacht und wieder Tag. Als unzählige Tage und Nächte durch das Loch zogen, erkannte jemand die andere Welt, in die es führte. Diese von Menschen geschaffene Hundefigur zeugt von ihnen, von der Welt, die sie umgab, von den Tagen und Nächten in jener Welt. Durch das Licht, das in das winzige Loch in der Höhle fiel, wurden die verschwommenen Spuren, die sich darin verbargen, für mich deutlicher als je zuvor. Zum ersten Mal stellte ich mir ihre Gesichter vor. Ich stellte mir ihre Gesichter vor, voller Neugierde, erfüllt von einer geheimen Freude angesichts einer leeren Seite. Ich stellte mir das Wetter und die Ereignisse vor, die zwischen dem Hund und dem Loch passiert sein mussten.
Die Arbeit mit Werkzeugen, die den Menschen vom Tier unterschied, fügte dem menschlichen Denken eine neue Kategorie hinzu, die über das Gegenwärtige und das Zukünftige hinausging. Sie ermöglichte es dem Menschen, beständig zu arbeiten. Das Loch und der Hund waren ein Vergnügen, das aus dieser Arbeit geboren wurde. Es war ein Vergnügen an der Arbeit, oder ein Vergnügen am Vergessen der Arbeit, das mit einem praktischen Zweck begann, diesen aber bald vergaß. Der Hund verbindet Tag und Nacht, außerhalb und innerhalb der Höhle. Er verbindet Arbeit, Herstellung und Handlung. Zwischen Produktion und Überschuss.
Die Antworten, die die Höhlenmalereien uns als erste und älteste Zeugnisse dieser Zeit auf Fragen zu Kunst und Menschheit von damals geben, bleiben weiterhin unklar. Niemand weiß genau, was für eine Denkweise diese Menschen, die Vorfahren des modernen Menschen, hatten oder welchem Zweck sie dienten. Bildet die Kunst einen Gegenpol zur Welt des Überlebens oder ist sie ein Teil davon?
Die Höhlenmalereien haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Es war, als habe ein Bild, von dem ich so sicher gewesen war, dass ich es kannte, einen riesigen Riss bekommen. Wie eine vakuumverpackte Kaffeetüte, die mit einem einzigen Scherenschnitt weit geöffnet wird. Das Pulver, das einst fest zusammengedrückt gewesen war, breitete sich aus und verlor sich in einem Augenblick. Ein winziges Loch, und alles, was an seinem Platz war, zeigte Anzeichen dafür, sich neu zu ordnen. Für die einen ist Geschichte die eigene Geschichte, für die anderen die Geschichte ihres Landes, für wieder andere die Geschichte des Planeten. Für jemand anderen ist Geschichte vielleicht ein Wort, das die Zukunft einschließt, die noch vor uns liegt. Angesichts dieser Menschen spürte ich, wie sich die Geschichte in mir neu ordnete. Ich musste die Wörter, die ich zu kennen glaubte, in eine andere Zeitachse schieben und sie neu betrachten.
Ich hatte das vage Gefühl, "beeindruckt" zu sein, und konnte das Erlebnis von vor vier Jahren anhand meiner Notizen, die ziemlich genau waren, wiedergeben. Ich holte meine alten Notizbücher aus der Kiste und fand das Datum dieser Zeit vor vier Jahren. Ich versuchte, die Szene und die Gefühle, die sie begleiteten, so gut wie möglich durch Notizen, Schrift und Zeichnungen des Ortes nachzustellen. Was ich fand, waren nicht so sehr die Details der Szene, sondern ein verändertes Ich.
Ich habe vor ein paar Monaten meinen Abschluss gemacht und erst vor kurzem ein Künstlervisum beantragt. Ich informiere mich im Internet darüber, wie viel Geld ich als Freiberufler steuerfrei verdienen kann und wie viel Geld ich behalten kann, wenn ich eine 14-prozentige Steuer zahle. Wenn ich mit dem Lesen dieses Textes fertig bin, wird ein kleines Honorar auf mein Konto überwiesen, das mir, wenn ich mich mit jemandem in der Ausländerbehörde treffe, der meine Kontobewegungen sehen kann, helfen wird, zu beweisen, dass ich in Deutschland als Künstlerin arbeiten kann.
Anders als beim Schreiben geht es beim Vorlesen darum, einer einzigen Richtung zu folgen. Man kann nicht schnell mit den Augen diagonal überfliegen. Man kann nicht wie bei einem Video zurückspulen, vorspulen, verlangsamen oder beschleunigen. Im Gegensatz zu den zeitlosen, übereinanderliegenden Tieren muss man es in einer geraden Linie von Anfang bis Ende lesen. Wenn ich die Worte, die ich geschrieben habe, laut vorlese, frage ich mich, ob ich die Eindrücke der Vergangenheit vorlesen soll, die Träume der Zeit, die Überzeugungen oder Zweifel der Gegenwart, die Sorgen der Gegenwart oder die Versprechen der Zukunft. Meine künstlerische Praxis wird weiterhin hartnäckig mit meinem Lebensunterhalt, mit meinen Problemen verwoben sein.
Aber ich denke immer noch an das Loch.
Die Taille wird zum Rücken, der Rücken wird zum Bauch,
der Bauch wird zum Kopf.
Der Kopf gebärt die Hüfte.
Die Hüfte gebärt die Taille.
Der Bauch verschluckt den Schwanz.
Bein schlägt auf Bein, Hüfte trifft auf Gesicht.
Zwei Köpfe prallen aufeinander.
Sie kreuzen sich, als würden sie kämpfen.
Sie schlagen sich und weichen einander aus.
Der Hirsch wird zur Ziege, die Ziege wird zur Katze.
Ein Gesicht wird zu einem Schwanz.
Ein Loch im Loch
Reading im Kunsthalle, Düsseldorf
May 2023
Kurz nachdem ich in die Klasse gekommen war, erfuhr ich, dass wir eine Exkursion nach Frankreich machen würden. Ich war die letzte Person in meiner Klasse, die sich für die Reise angemeldet hatte und mitfahren konnte. Allerdings hatten wir keine Unterkunft reserviert, was bedeutete, dass jeder von uns selbst einen Schlafplatz finden musste. Ich hatte weder einen Schlafsack noch ein Zelt und schrieb am Tag vor unserer Abreise eine E-Mail an die ganze Klasse, ob mir jemand etwas leihen könnte. Glücklicherweise konnte mir ein Freund ein Zelt leihen und auf dem Weg fand ich in einem Aldi-Supermarkt zufällig einen Schlafsack. Es war Frühlingsanfang und zum Glück gab es ein paar Campingartikel in den Regalen. Das Zelt, das ich mir geliehen hatte, war für eine Person gedacht gewesen, aber Nuo, die kein Zelt hatte, und ich schliefen eng aneinandergekuschelt. Ich klapperte mit den Zähnen, weil mir kalt war, und sie wälzte sich die ganze Nacht hin und her und gab mir ab und zu einen Klaps, damit ich ruhig war.
Als ich aufwachte, konnte ich das steife Gefühl in meinen Gliedern nicht loswerden. Die Temperaturen waren in der Nacht gesunken, und durch den frühmorgendlichen Tau auf der Wiese war der Zeltboden feucht geworden. Ich zog mich schnell an und ging aus dem Zelt zu dem großen Holztisch, an dem wir am Vorabend Bier getrunken hatten. Einige hatten bereits mit dem Frühstück begonnen.
Jemand holte ein kleines Schweizer Taschenmesser hervor, das er immer bei sich zu haben schien, und schnitt das Brot auf. Sorgfältig schnitt er sich etwas von der französischen Butter und dem Käse aus dem Lebensmittelgeschäft von unterwegs ab, schnitt die Tomaten auf, platzierte alles auf seinem Brot und begann zu essen. Seine Handhabung des Messers war geschickt und elegant. Er war zwar an einem anderen Ort, hielt aber an seinen Essgewohnheiten fest. Die Person schräg gegenüber von ihm, die etwas weiter abseits saß, öffnete eine Dose Thunfisch. Sie stach mit der Gabel hinein und aß ihn, ohne vorher das Öl abzugießen. Eine andere Person, die am Ende des Tisches saß, biss in einen grünen Apfel. Sie aß immer nur Äpfel. Nicht etwa zusammen mit glutenfreiem Brot, Hafermilch, Getreideschnitzel oder trockenem Salattofu, sondern einfach nur Äpfel. Sie sagte, dass sie es nicht mögen würde, wie Gabel und Messer mit dem Essen umgingen. Jemand anderes aß in Plastik verpacktes chinesisches Kimchi, ohne Reis. Wiederum jemand anderes holte einen großen Beutel Haferflocken heraus, die er seit Beginn der Exkursion dabei gehabt hatte. Es sah so aus, als sei die Tüte endlich zur Hälfte leer. Er stellte einen Topf mit Wasser und einer kleinen Menge Milch auf einen Campingkocher und kochte die Haferflocken darin. Es gab ein paar Leute, die nichts zu essen hatten, nur Kaffee zum Frühstück. Ich kochte etwas Wasser und schüttete es über die Tasse mit den Instantnudeln. Sie waren warm und scharf. Die Kälte, die mich in der Nacht zuvor begleitet hatte, schien endlich zu verschwinden.
Wir wurden in zwei Gruppen aufgeteilt und trafen uns mit dem Auto vor der Höhle. Am Eingang der Höhle wartete bereits eine Führerin darauf, uns zu begrüßen. Wir folgten ihr und betraten hintereinander den engen Eingang. Der Durchgang war so schmal, dass man die Wände fast berühren konnte. Wir verließen uns auf das kleine Lampenlicht, das die Führerin in der Hand hielt, und auf ihre Stimme, die den gesamten Raum füllte. Es fühlte sich an, als gewöhnten sich unsere Augen schnell an die Dunkelheit. Jedes Mal, wenn die Führerin um eine Ecke des gewundenen Ganges verschwand, wurde es wieder dunkel um uns herum. Manchmal blieb sie stehen, um die Wand mit ihrer Lampe zu beleuchten. Jedes Mal, wenn sie das Licht auf die Wand in ihrer Nähe richtete, erschienen hier und da Ziegen, Pferde, Mammut und Hirsche, die unterschiedlich stark in die Wand gekratzt worden waren.
An irgendeinem Tag vor 15.000 Jahren hatte hier jemand gestanden und die Linien gesehen, die im Laufe der Zeit in dem Körper des Felses entstanden waren. Sorgfältig hatte er mit dem Auge eine der vielen Spuren ausgewählt und entlang dieser Linie ein Pferd gezeichnet. Als dieses irgendwann verblasst war, war ein anderer an die Stelle gekommen, hatte dort ein verschwommenes Tier gefunden, die Linie auf dessen Rücken verlängert und eine Kuh gezeichnet. Dann, Jahrzehnte später, war jemand an diese Stelle gekommen und hatte, das Pferd und die Kuh von damals vergessend, ein Mammut auf die Stelle gemalt.
Geschichtet, verworren und zerrissen, sahen die Tiere manchmal wie imaginäre sechsbeinige Kreaturen aus, manchmal wie etwas, das ständig in Bewegung war.
Die Taille wird zum Rücken, der Rücken wird zum Bauch,
der Bauch wird zum Kopf.
Der Kopf gebärt die Hüfte.
Die Hüfte gebärt die Taille.
Der Bauch verschluckt den Schwanz.
Bein schlägt auf Bein, Hüfte trifft auf Gesicht.
Zwei Köpfe prallen aufeinander.
Sie kreuzen sich, als würden sie kämpfen.
Sie schlagen sich und weichen einander aus.
Der Hirsch wird zur Ziege, die Ziege wird zur Katze.
Ein Gesicht wird zu einem Schwanz.
Prähistorische Menschen führten ein Leben unterwegs, wanderten auf der Suche nach Nahrung von Ort zu Ort. Sie folgten dem Wechsel der Jahreszeiten, den Tieren und den Wachstumszyklen der Pflanzen. Sie waren flexibel und begnügten sich mit dem, was verfügbar war. Sie fanden und sammelten Termiten, pflückten Früchte, gruben Pflanzenwurzeln aus, jagten Kaninchen, Bisons und Mammuts. Sie mussten nicht nur die Tiere, Pflanzen und Gegenstände um sich herum verstehen, sondern auch die innere Welt ihres eigenen Körpers und ihrer Sinne. Sie lauschten auf die kleinsten Geräusche im Gras, um festzustellen, ob eine Schlange in der Nähe lauerte. Sie schauten genau zwischen die Blätter, um Bienenstöcke und Vogelnester zu entdecken. Beim Essen, Sitzen, Gehen und Laufen waren sie flott und immer wachsam.
Einmal sagte mein Kollege, der nach der Arbeit mit mir nach Hause ging und die belebte Straße beobachte, ruhig:
"Das Unglück aller Menschen begann, als die Menschheit den Dünger erfand."
Vor der Erfindung des chemischen Düngers mussten die Menschen die meiste Zeit damit verbringen, Nahrungsmittel zu produzieren. Nachdem chemische Düngemittel verfügbar geworden waren, stieg die Nahrungsmittelproduktion sprunghaft an und die Bevölkerung explodierte. Mit weniger Menschen, die in der Landwirtschaft arbeiteten, konnten mehr Lebensmittel produziert werden als zuvor. Überschüssige Arbeitskräfte auf dem Land begannen in die Städte abzuwandern. Die Menschheit wurde vor dem Verhungern bewahrt, aber das städtische Leben verlängerte die Arbeitszeiten. Dank chemischer Düngemittel wuchs die Bevölkerung von einer Milliarde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf heute acht Milliarden.
Bevor der Mensch den Dünger erfand, bevor er das Vieh domestizierte, bevor er sesshaft wurde und bevor er die Auffassung entwickelte, den Tieren überlegen zu sein, hatte er in prähistorischen Zeiten jeden Tag gebetet. Die Menschen hatten über Sprache, Gesang, Tanz und Rituale mit allem kommuniziert. Es gab keine Barrieren zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Sie beteten für eine erfolgreiche Jagd, um bei rauem Wetter nicht zu verhungern. Sie trugen Tierhäute am Körper. Wenn alles nach Plan verlief, konnte die Gruppe an einem einzigen Nachmittag in Zusammenarbeit mehrere Tonnen Fleisch, Fett und Tierhäute erbeuten. Da sich die Strategie, sich in Tierhäuten zu tarnen, bei der Jagd als erfolgreich erwiesen hatte, glaubten sie, dass die Beherrschung des Bildes des Tieres ihnen die magische Kraft verleihen würde, das lebende Tier zu kontrollieren. Die Häute verwandelten sich nach und nach in Bilder, die eine gesamte Felswand bedeckten. Sie gingen tief in die Erde, weit weg von den Wohnräumen am Eingang der Höhle, um Tiergestalten zu erschaffen. Vielleicht hielten sie Zeremonien ab, bei denen sie in dem Glauben, viele Tiere zu fangen, Speere auf die gemalten Bilder warfen oder sie übten sich in der Jagd, indem sie den gesamten Ablauf der Jagd nachstellten. So wurden die Spuren ihres Überlebenswillens für uns beleuchtet und zwanzigtausend Jahre später an uns weitergegeben.
Wir konnten nicht mehr abschätzen, wie tief wir gegangen waren. Wir gingen tiefer und tiefer und verließen uns nur auf die Schritte unserer Führerin. Es war ein sehr enger Raum und ich musste mich tief nach vorne beugen, damit mein Kopf nicht die Decke berührte. Die Wände waren von mehreren natürlichen Löchern durchzogen. Unsere Führerin leuchtete mit der Lampe an die Decke und fragte:
"Was seht ihr?“
Rundherum waren unzählige weitere Linien eingekratzt worden, aber ihre Form war immer noch deutlich zu erkennen. Ein vierbeiniges Biest. Es sah aus wie ein gewöhnlicher Hund oder Wolf. Plötzlich wandte sie sich der anderen Seite der Wand zu und als sie langsam eines der vielen Löcher abdeckte, durch die Licht fiel, setzte sich der Hund, der zuvor gestanden hatte, auf sein Hinterteil. Als sie ihre Hand wegnahm, stand der Hund wieder auf. Man weiß nicht, ob es von einer Person oder von zwei Personen mit unterschiedlichen Zeitzonen gezeichnet worden war, aber es war das, was man die erste Animation der Menschheit nennen könnte. Der Nebel, der für mich über der Zeit der Höhlenmalerei gelegen hatte, schien sich ein wenig zu lichten.
Die Menschen damals tasteten sich durch die Dunkelheit und verließen sich dabei auf einen Lichtschimmer, der durch ein Loch in der Wand in einer tiefen, dunklen Höhle fiel. Dann wurde es Nacht und wieder Tag. Als unzählige Tage und Nächte durch das Loch zogen, erkannte jemand die andere Welt, in die es führte. Diese von Menschen geschaffene Hundefigur zeugt von ihnen, von der Welt, die sie umgab, von den Tagen und Nächten in jener Welt. Durch das Licht, das in das winzige Loch in der Höhle fiel, wurden die verschwommenen Spuren, die sich darin verbargen, für mich deutlicher als je zuvor. Zum ersten Mal stellte ich mir ihre Gesichter vor. Ich stellte mir ihre Gesichter vor, voller Neugierde, erfüllt von einer geheimen Freude angesichts einer leeren Seite. Ich stellte mir das Wetter und die Ereignisse vor, die zwischen dem Hund und dem Loch passiert sein mussten.
Die Arbeit mit Werkzeugen, die den Menschen vom Tier unterschied, fügte dem menschlichen Denken eine neue Kategorie hinzu, die über das Gegenwärtige und das Zukünftige hinausging. Sie ermöglichte es dem Menschen, beständig zu arbeiten. Das Loch und der Hund waren ein Vergnügen, das aus dieser Arbeit geboren wurde. Es war ein Vergnügen an der Arbeit, oder ein Vergnügen am Vergessen der Arbeit, das mit einem praktischen Zweck begann, diesen aber bald vergaß. Der Hund verbindet Tag und Nacht, außerhalb und innerhalb der Höhle. Er verbindet Arbeit, Herstellung und Handlung. Zwischen Produktion und Überschuss.
Die Antworten, die die Höhlenmalereien uns als erste und älteste Zeugnisse dieser Zeit auf Fragen zu Kunst und Menschheit von damals geben, bleiben weiterhin unklar. Niemand weiß genau, was für eine Denkweise diese Menschen, die Vorfahren des modernen Menschen, hatten oder welchem Zweck sie dienten. Bildet die Kunst einen Gegenpol zur Welt des Überlebens oder ist sie ein Teil davon?
Die Höhlenmalereien haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Es war, als habe ein Bild, von dem ich so sicher gewesen war, dass ich es kannte, einen riesigen Riss bekommen. Wie eine vakuumverpackte Kaffeetüte, die mit einem einzigen Scherenschnitt weit geöffnet wird. Das Pulver, das einst fest zusammengedrückt gewesen war, breitete sich aus und verlor sich in einem Augenblick. Ein winziges Loch, und alles, was an seinem Platz war, zeigte Anzeichen dafür, sich neu zu ordnen. Für die einen ist Geschichte die eigene Geschichte, für die anderen die Geschichte ihres Landes, für wieder andere die Geschichte des Planeten. Für jemand anderen ist Geschichte vielleicht ein Wort, das die Zukunft einschließt, die noch vor uns liegt. Angesichts dieser Menschen spürte ich, wie sich die Geschichte in mir neu ordnete. Ich musste die Wörter, die ich zu kennen glaubte, in eine andere Zeitachse schieben und sie neu betrachten.
Ich hatte das vage Gefühl, "beeindruckt" zu sein, und konnte das Erlebnis von vor vier Jahren anhand meiner Notizen, die ziemlich genau waren, wiedergeben. Ich holte meine alten Notizbücher aus der Kiste und fand das Datum dieser Zeit vor vier Jahren. Ich versuchte, die Szene und die Gefühle, die sie begleiteten, so gut wie möglich durch Notizen, Schrift und Zeichnungen des Ortes nachzustellen. Was ich fand, waren nicht so sehr die Details der Szene, sondern ein verändertes Ich.
Ich habe vor ein paar Monaten meinen Abschluss gemacht und erst vor kurzem ein Künstlervisum beantragt. Ich informiere mich im Internet darüber, wie viel Geld ich als Freiberufler steuerfrei verdienen kann und wie viel Geld ich behalten kann, wenn ich eine 14-prozentige Steuer zahle. Wenn ich mit dem Lesen dieses Textes fertig bin, wird ein kleines Honorar auf mein Konto überwiesen, das mir, wenn ich mich mit jemandem in der Ausländerbehörde treffe, der meine Kontobewegungen sehen kann, helfen wird, zu beweisen, dass ich in Deutschland als Künstlerin arbeiten kann.
Anders als beim Schreiben geht es beim Vorlesen darum, einer einzigen Richtung zu folgen. Man kann nicht schnell mit den Augen diagonal überfliegen. Man kann nicht wie bei einem Video zurückspulen, vorspulen, verlangsamen oder beschleunigen. Im Gegensatz zu den zeitlosen, übereinanderliegenden Tieren muss man es in einer geraden Linie von Anfang bis Ende lesen. Wenn ich die Worte, die ich geschrieben habe, laut vorlese, frage ich mich, ob ich die Eindrücke der Vergangenheit vorlesen soll, die Träume der Zeit, die Überzeugungen oder Zweifel der Gegenwart, die Sorgen der Gegenwart oder die Versprechen der Zukunft. Meine künstlerische Praxis wird weiterhin hartnäckig mit meinem Lebensunterhalt, mit meinen Problemen verwoben sein.
Aber ich denke immer noch an das Loch.
Die Taille wird zum Rücken, der Rücken wird zum Bauch,
der Bauch wird zum Kopf.
Der Kopf gebärt die Hüfte.
Die Hüfte gebärt die Taille.
Der Bauch verschluckt den Schwanz.
Bein schlägt auf Bein, Hüfte trifft auf Gesicht.
Zwei Köpfe prallen aufeinander.
Sie kreuzen sich, als würden sie kämpfen.
Sie schlagen sich und weichen einander aus.
Der Hirsch wird zur Ziege, die Ziege wird zur Katze.
Ein Gesicht wird zu einem Schwanz.